29. November 2016

Fragen

- English version below -

Ich möchte Sie, so gut ich es kann, bitten, lieber Herr, Geduld zu haben gegen alles Ungelöste in Ihrem Herzen und zu versuchen, die Fragen selbst liebzuhaben wie verschlossene Stuben und wie Bücher, die in einer fremden Sprache geschrieben sind. Forschen Sie jetzt nicht nach den Antworten, die Ihnen nicht gegeben werden können, weil Sie sie nicht leben könnten. Und es handelt sich darum, alles zu leben. Leben Sie jetzt die Fragen. Vielleicht leben Sie dann allmählich, ohne es zu merken, eines fernen Tages in die Antwort hinein. 

Dieser Briefausschnitt von Rainer Maria Rilke an Franz Xaver Kappus vom 16. Juli 1903 ist mir diese Woche nach vielen Jahren wieder begegnet. Ich erinnere mich schmunzelnd, wie wir als Schüler darüber (und auch andere Stellen darin) hitzig diskutiert haben.

Heute habe ich eine Ahnung davon, wie Fragen in die Dinge hinein führen, während Antworten Oberflächen beschreiben; wie Fragen öffnen und Antworten schließen; wie sich Fragen aushalten oder gar lieben lassen. Gleichzeitig bemerke ich meinen Antwort-Reflex, meinen Lösungs-Zwang. Antworten und Lösungen gelten in unserer Kultur viel. 

"Wer nichts weiß, muss alles glauben." hat Marie von Ebner-Eschenbach gesagt. Das kann man vor einem emanzipatorischen Hintergrund oder vor einem religionskritischen lesen. Und doch scheint uns das Wissen auch nicht weiter zu helfen. Je mehr wir wissen, desto mehr wissen wir, dass wir nichts wissen (oder sehr wenig). Antworten scheinen oft lediglich eine Illusion von Sicherheit zu schaffen. 

Nun trinke ich in letzter Zeit abends gern einen Süßholz-Minztee, der sich buddhistisch gibt und kleine Weisheiten auf seinen Teebeutel-Zettelchen verkündet. Mein Mann und ich scherzen gern über diese Sprüche. Spaßhaft stellen wir philosophische Fragen und lassen sie vom 'Tee-Orakel' beantworten. Es schafft einen Moment der Verbindung und Gedankenakrobatik.  

Heute Abend steht auf dem Zettel: "Lass die Dinge zu Dir kommen." Und plötzlich passt das für mich so gut zu Rilkes Rat, die Fragen zu lieben. Nur wenn ich die Fragen aushalte, ja wertschätze, schaffe ich einen Raum, eine Offenheit, in der die Dinge (und Antworten?) zu mir kommen können. Sie kämen zwar sonst auch, aber ich könnte sie vielleicht nicht erkennen.

Ende der Tee-Philosophie - im Kaffeesatz sehe ich derzeit nur Gespenster ;-)

Mögt ihr eure Fragen?

Herzlichst, Lena


                                                                                 Strickmuster: Simple Autumn Mittens
                                                                                 Nadelgröße: 3,5mm
                                                                                 Garn: De Rerum Natura Ulysse, Poivre Blanc

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There is a letter by Rilke to a young friend written in 1903 where he sais: "I want to ask you to be patient with all the undissolved questions of your heart. Please try to love the questions like closed chambers and books written in a foreign language. Do not search for answers which cannot be given yet as you are still unable to live them. You need to live erverything. Live the questions now. Maybe you will slowely without noticing live into the aswers one day."

This advice to endure or even love the questions and to resist the urge of answering everything right away resonates deeply with me these days. I want to try to keep a space open for the things comming at me. I want to open my eyes for the questions and wonders without closing my mind by 'answering' too quickly. It is not easy but relieving to me.

Which words did inspire you lately? And what are you knitting and reading these days?
Lena xxx

handschuhe strickmuster
handschuhe stricken
 

15 Kommentare:

  1. Ich weiß sehr gut, was Du meinst, denke ich. So oft müssen Fragen beantwortet werden, weil es notwendig ist, eine Position einzunehmen - aber in etlichen ganz existenziellen Angelegenheiten ist es gar nicht notwendig, eine Position einzunehmen, man ist es nur so gewohnt. Ich genieße es manchmal sehr, mich auf das Nichtwissen, auf das Nichtwissenkönnen einzulassen, da, wo man es sich erlauben kann. Mir ist dann, als würde ich den unendlich langsamen Herzschlag des Universums hören, in dem wir alle ganz nahe am Nichts sind. Das macht vielen Menschen offenbar Angst, ich weiß nicht, weshalb es mich stattdessen beruhigt. Tut es auch nicht immer, manchmal erschreckt es mich, aber wenn ich das Erschrecken kommen und gehen lasse, dann liegt dahinter eine ganz tiefe Ruhe und ein Einverstandensein, eine gewisse Ästhetik des Schreckens und ein Frieden mit all dem Nichtverstehen, das uns unter dem alltäglichen Begreifen ja unablässig begleitet - dann fällt von mir ab, ständig alles mit meinen Kriterien bewerten zu wollen, und das Universum ist einfach, und ich bin (noch) mittendrin. Nichts weiter als ein unbedeutendes Teilchen, das für sich selbst zentraler Bestandteil der eigenen Welt ist und für die, die es lieben, ein sehr wichtiger. Wie kurios. Und wie schön, da zu sein und eine unvollständige Perspektive auf all dieses Unbegreifliche haben zu dürfen, in dieser kurzen langen Zeit, da man als eigenständiges Bewusstsein aus der Dunkelheit auftaucht, ehe man wieder in sie hineingeht.
    Und in diesem Loslassen, in diesem Nichtbewerten, da werden auf einmal die Gedanken ganz frei und es öffnen sich Türen und Wege, die vorher unsichtbar waren.

    Liebe Grüße
    Maike

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    1. Liebe Maike, danke für diese wunderbaren Worte und Gedanken!
      Sei herzlich gegrüßt!

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  2. Liebe Lena,

    dieses Ziat kenne und liebe ich auch schon längere Zeit.
    Zunächst lies es mich etwas rätselnd zurück. Dann begriff ich langsam, dass es für mich viel mit Vertrauen in den Gang des Lebens, mit Aushalten der Ungewissheit über das, was kommen wird, zu tun hat.
    Und inzwischen merke ich, dass die von mir gestellte Frage letztlich nicht die richtige, entscheidende Frage ist. Und die Antwort eigentlich schon längst da...
    Doch die Frage ganz loszulassen, das fällt mir immernoch schwer.

    Ich grüße Dich,
    freue mich über das Nachsinnen, das durch Deinen Beitrag entstanden ist,
    Helga

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    1. Ja, liebe Helga, das ist sicher der nächste und größte Schritt - auch die Fragen loszulassen :-)
      Liebe Grüße an Dich!

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  3. Oh, Lena, such beautiful words... I try my best to live this way, though it is so easy sometimes to be caught in this urge to get the answers and make everything "right"... Love your beautiful project!

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  4. Stricken eine art Dinge zu sich kommen zu lassen ?
    lieber gruss *

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    1. Ja, liebe Monique, das ist wohl wahr :-)
      Lieben Gruss auch an Dich!

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  5. Beautiful pictures and sentiments. I agree. We do need to leave space around the questions, so that we can hear our inner voices/intuition and see what gifts life will bring us. I recognise that place - is it Oevelgoenne? Great place to knit :-)

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    1. Thank you, Anna! Yes, it is at 'Strand Perle' Oevelgoenne :-) I love to come here whenever I need some space and fresh winds.

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    2. Ah lovely! My great aunt Eva actually started it up many many years ago. Great place. I was there this summer with my daughters :-)

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  6. beautiful mittens and I love the way you photoed them outside :)

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  7. Lena, your mittens are beautiful - and your photographs are stunning. I am curious - what brand of tea? The Licorice - Mint tea sounds incredibly delicious, and the perfect peaceful way to end a day. As for the questions - I also believe that sometimes a question is for pondering and does not require an answer. I think that in those times, the answer lies within us in our thinking and processing of the question - and especially how that thinking and processing changes us. A truly beautiful post, thank you for sharing!

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    1. Thank you so much for sharing your thoughts on this! I like several brands of licorice-mint tea for example 'Yogi Tea Lakritz Minze' or 'Pukka Organic Peppermint & Licorice'.
      Lena x

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  8. Die Handschuhe sind wunderschön! Darf man fragen, welches Muster bzw. welche Anleitung du dafür benutzt hast? Ich ärgere mich nämlich über die letzten selbstgestrickten Fäustlinge, die haben einfach eine zu schmale und dadurch rutschanfällige Passform. Würd sie gerne nochmals auftrennen und jetzt bin ich auch der Suche nach einer alternativen Anleitung.

    Liebe Grüße, Daniela

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    1. Hallo Daniela, das Strickmuster habe ich oben im Text verlinkt. Allerdings habe ich es nur als Idee benutzt und einiges nach meinen Vorstellungen verändert.
      Herzliche Grüße, Lena

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